Es ist nicht das erste Mal, dass ich während einer Berlinale ganz tolle Entdeckungen in der Kinder,-und Jugendfilm-Sektion gemacht habe. Dabei hatte ich Loving Lorna , den ersten langen Dokumentarfilm der Zwillingsschwestern Annika und Jessica Karlsson erst einen Tag vorher in meinen Sichtungsplan aufgenommen Dass der Film dann neben dem wunderbaren Aus einem Jahr der Nichtereignisse von Ann-Carolin Renninger und René Frölke zu meinen Lieblingen in diesem Jahr gehören sollte, damit hatte ich nicht gerechnet.
In diesem Jahr waren es vorwiegend Dokumentarfilme, die mich angesprochen haben. Loving Lorna erinnert mich vor allem an die früheren Filme von Peter Nestler, insbesondere an Ein Arbeiterclub in Shefield (1965) oder an Helke Misselwitz wunderbaren Winter Ade (1988), was allein schon dafür spricht, wie sehr mir der Film gefallen hat. Dann habe ich den Film aber auch noch in Berlins schönstem Kino, dem Zoo-Palast gesehen, der nach seinem Umbau und die Restaurierung der beiden Originalkinos daran erinnert, was Kinoarchitektur einmal war, kam noch dazu. Den richtigen Film im richtigen Kino, das ist schon ein glücklicher Zufall. Dass Dokumentarfilme eben auch auf die grosse Leinwand gehören, dass hat mir dieser Nachmittag noch einmal eindrucksvoll demonstriert.
Der Film ist eine Miniatur über das Leben einer irischen Arbeiterfamilie in einem heruntergekommenen Vorort von Dublin. Der Vater ist schon seit ein paar Jahren arbeitslos. Seine Arbeit hat er durch eine Rezession verloren. Er hat ein paar Pferde, um die er sich kümmert und das hilft ihm über die Arbeitslosigkeit hinweg. Die Mutter leidet unter Epilepsie, ihr Bewegungsspielraum ist eingeschränkt. Sie liest viel und gern und sammelt alle mögliche Literatur. Akribisch ordnet sie immer wieder ihre kleine Privatbibliothek.
Das sind kleine Einblicke in die Sorgen und Träume einer gewöhnlichen Familie. Auch in den intimeren Momenten, bleibt der Haltung der schwedischen Filmemacherinnen sehr diskret. Eines der Kinder ist die 17-jährige rothaarige und sommersprossige Lorna. Die Liebe zu Pferden hat sie von ihrem Vater geerbt. Das Pferd, das er ihr geschenkt hat, ist genau so alt wie sie. Lorna träumt davon, Hufschmiedin zu werden, ein Beruf, der vielleicht bald ausstirbt . Die schrecklichen Rückenschmerzen, unter denen sie leidet, wird sie wohl daran hindern ihren Traum zu verwirklichen.
Die Dinge und Menschen erscheinen beinahe wie zufällig vor unseren Augen als ein für uns zeitlich begrenztes Privileg, wie André Bazin einmal die Wirkung eines Films von Jean Renoir beschrieben hat.
Die Arbeitslosigkeit des Vaters, die Krankheit der Mutter und die Spannung zwischen Traum und Wirklichkeit der jungen Lorna werden durch deren Erzählungen offenbart. Das Drama, die versteckten Tragödien, mit der wohl jede Familie zu kämpfen hat, sind eingebettet zwischen Alltagsaktionen. Einmal verkauft die Familie ausgediente Kleidung und Haushaltsgegenstände auf einem Flohmarkt, ein subtiles aber untrügliches Zeichen für die finanziellen Probleme der Familie, die kaum erwähnt werden.
Das Episodenhafte, das scheinbar Nebensächliche verdichtet sich auf unheimliche Weise zu einer eigenartigen Poesie. Einmal sieht man Lorna, wie der letzte Hufschmied in der Gegend ihr einen Einblick in seine Arbeit gibt. Der mächtigen Pferdefuss wird zwischen die Beine geklemmt um das alte Hufeisen abzutrennen.
Eine eigentümliche Zärtlichkeit vermitteln die Momente wenn entweder der Vater oder die Mutter Lorna´s widerspenstiges Haar kämmen oder wenn Lorna ihrer Mutter eine Zopf flechtet. Ein Kritiker(der Name ist mir leider entfallen) hat einmal über die Filme Ozus geschrieben, “dass die Personen viel zu beschäftigt mit Leben sind, als das sie sie sich erkären könnten”.
Obwohl unterschiedlich in ihre formale Herangehensweise, ist Loving Lorna nach Aus einem Jahr der Nichtereignisse der zweite “Ozuesque” film der letzten Berlinale.
In diesem Vorort von Dublin sieht man ein Stück Welt im Wandel begriffen.Ein hässliches Apartment-Hochhaus wird abgerissen. In den 1980er Jahren war es nur noch ein Zufluchtsort für Drogenabhängige. Wenn Lorna mit ihrem Pferd durch den Ort reitet, dann erscheint das wie ein Anachronismus. Einmal sieht man einen Abrissbagger ein Haus einreissen. Es wird deutlich, dass sich das Bild von diesem Ort nur wenige Monate nach dem dieser Film gemacht wurde sehr verändern wird.
Die Liebe zu den Pferden und besonders Lornas Wunsch Hufschmiedin zu werden, ein Beruf im Prozess des Verschwindens erinnert mich an Ozu´s vergebliche Liebe, für die Dinge, die unaufhörlich verschwinden werden. Wenn das letzte Bild abgeblendet wird, wird dieser wunderbare Familie wieder allein sein mit ihren Sorgen und Träumen. Aber dieser herzzerreissend kurze Einblick von 61 Minuten hat trotz oder gerade wegen dem Episodenhaften einen Einblick in den Zyklus von Menschenleben vermittelt, zu dem nur das Kino in der Lage ist. Loving Lorna, dieses Stück irischer Sozialgeschichte bekommt für diese kurze Zeit, Namen, Identitäten – ja im wörtlichen Sinne Körper und Seelen. Das Kino mag seinen Ursprung in dem technischen Phänomen seiner Mechanik, Chemie oder heute auch Elektronik haben, einer Technik, die immer wieder von einer Industrie standardisiert wurde, die sehr selten empfänglich für das Kino als Dokumentation, Kunst oder Poesie waren. Und trotzdem sind Filme wie Loving Lorna immer noch möglich.
Wenn diese Identitäten dann in der Anonymität des Abspanns verschwinden – wenn der Film sprichwörtlich seinen letzten Atemzug tut, dann bleibt dieses seltsame Gefühl für die Flüchtigkeit des Lebens noch sehr sehr lange bestehen.
Dieses kleine Meisterwerk der schwedischen Schwestern Annika und Jessica Karlsson, das ich auf der riesigen Leinwand dieser Kino-Kathedrale Zoo-Palast gesehen habe (und das die 61 Minuten aus dem Leben einfacher Menschen für einen Moment zu einem nahezu kosmischen Ereignis vergrößert hat) hat wohl mit dem “verlorenen Paradies de Kinos (Wenders über die Filme von Ozu) zu tun
Rüdiger Tomczak
Diese Kritik ist die leicht veränderte deutsche Version eines englischen Textes zu Loving Lorna aus meinem Blog.