Erinnerungen an Kei Kumai
1.7.1930 - 23. Mai 2007
(die englische Version dieser Texte finden Sie in meinem Blog)
Ich erinnere mich an mein erstes Interview mit Kei Kumai. Das war auf der
Berlinale 1992 und es war mein erstes Interview mit einem japanischen Regisseur überhaupt. Das war auch der Beginn einer meiner wenigen freundschaftlichen Beziehungen zu einem japanischen
Regisseur. Wann immer ich ein Interview mit ihm machte, liess er sich viel Zeit, die hektische Betriebsamkeit eines Filmfestivals ignorierend.
Ich erinnere mich an den ersten Film, den ich von Kei Kumai gesehen habe. Das war auf der Berlinale 1987,
Umi to Dokuyaku (Das Meer und das Gift), ein
verstörendes Drama um einen japanischen Kriegsverbrecherprozess nach dem zweiten Weltkrieg. Von diesem Film an, habe ich alle folgenden gesehen, das Frühwerk gilt es für mich erst noch zu
entdecken. Die Filme von Kumai, die mich am meisten beeindruckt haben sind seine drei auf Romane von Shusako Endo basierenden Umi to Dokuyaku, Fukai Kawa (Der tiefe Strom, 1995) und Ai Suru (Lieben, 1997). Besonders Fukai Kawa, den ich 1995 auf dem Weltfilmfest von
Montreal gesehen habe, hat mich seit dem nie mehr losgelassen. Der Film spielt zum grössten Teil in Indien, der heiligen Stadt Benares und ist ein Mosaik mehrerer Menschenschicksale, deren Wege
sich kreuzen. Das ist einer der japanischen Filme der 90er Jahre, die in ihrem Reichtum an die grosse Zeit des japanischen Kinos erinnern. Ich erinnere mich an ein anderes Interview, dass ich
1995 in Montreal zusammen mit der Koreanerin Mi Jeong-Lee mit ihm gemacht habe. Dabei hat er ihr erzählt, dass er als Heranwachsender auf einem Kamikaze-Flughafen mit koreanischen Zwangsarbeitern
zusammenarbeiten musste. Als Jugendlicher war er Zeuge der Diskrimierung von Nicht-Japanern. Kumai war zu jung, um für die Gräueltaten der japanische Geschichte mitverantwortlich zu sein und zu
alt und zu sensibel um die düstere Seite der japanischen Zivilisation vergessen zu können. Und er war gerade alt genug um einen Einblick in die Abgründe des Menschen während des Krieges zu
bekommen.
Ich erinnere mich an meine letzte Begegnung mit Kei Kumai, wieder auf einer
Berlinale und zwar im Jahr 2001 - und wie immer hat ihn wieder seine Frau Akiko begleitet. In diesem Jahr wurde ihm die Berlinale-Kamera für sein Lebenswerk verliehen. Ich erinnere mich, dass er
mich diesmal sehr herzlich umarmt hatte. Das hatte mich sehr berührt, denn so eine betonte Geste der Zuneigung ist bei Japanern seiner Generation eher selten.
Ende Mai hat mich mein Freund Claude R. Blouin von dem Tod Kei Kumais
unterrichtet. Kei Kumai ist am 23. Mai an den Folgen eines schweren Schlaganfalls gestorben. Das erste, woran ich denken musste war, dass ich drei meiner langjährigen Freundschaften direkt oder
indirekt Kei Kumai verdanke. Valérie Dhiver, eine Freundin aus Paris habe ich nach einer Marktvorführung von Sen no
Rikyu (Der Tod des Teemeisters Rikyu, 1989) während der Berlinale 1990 kennengelernt. Ein halbes Jahr später
arbeitete Valerie für die Firma, die Kumais nächsten Film Shikibu Monogatari herausbrachte. Sie traf während des Filmfestivals von Montreal ausgerechnet Claude R. Blouin und hat mir ein Jahr später seine Adresse
gegeben. Auch eine andere Freundschaft, 1995 mit der aus Vietnam stammenden Kanadierin Florence MC. Nguyen entstand anfangs aus einer gemeinsamen Begeisterung für dem Film Fukai Kawa. Der Gedanke an diese drei Freunde, die ich
ohne Kumai wohl niemals getroffen hätte, vermischt sich in meiner Erinnerung mit dem Geflecht von menschlichen Beziehungen in seinem Film Fukai Kawa. Ich weiss nicht, ob es ein Trost ist, dass
Kei Kumais Filme weiterleben. Ich habe auch noch nie einen Nachruf über einen Regisseur geschrieben, der mir als Mensch etwas bedeutet hat.
Wann immer jemand gestorben ist, der mir in irgendeiner Weise nahestand, fallen mir absurderweise viele Dinge ein, die ich
dieser Person noch erzählen wollte.
Das sind die hilflosesten Momente.
Kei Kumai ist tot und dem Schock dieser Erkenntnis wird die eigentliche Trauer erst noch folgen.
Rüdiger Tomczak (aus shomingeki Nr. 19, Sommer 2007)
für Florence M. C. Nguyen
FUKAI KAWA
(Der tiefe Strom) von Kei Kumai, Japan: 1995
I.
Die alten Gemäuer der heiligen Stadt Benares und der Vorspann als Vorausschau auf das, was der Film erzählt. Diese Gebäude, einst von Menschenhand gebaut beginnen sich allmählich wieder in ihre Bestandteile zu zersetzen.
Eine Totale von engen Landstraßen, durch die ein Bus mit japanischen Touristen fährt. Die Landschaft, die Tiere, die sich in ihr, nur wenige Meter von der Straße bewegen und der Reisebus. Wie die Kamera erfährt er Teile der Welt, wie das Objektiv bietet er aber auch nur einen Ausschnitt davon. Bevor die Geschichte beginnen kann, sucht die Kamera im Inneren des Busses die Gesichter der Personen. Zunächst der Off-Kommentar der japanischen Touristin Mitsuko Naruse. Dann verharrt die Kamera ganz unerwartet auf dem Gesicht eines älteren Mannes. In wenigen Einstellungen geht der Film vom allgemeinen in die konkreten Teile einer erzählten Kinogeschichte über. Gleich in den ersten Einstellungen merkt man, daß dieser Film von mehreren Personen erzählt, die gleichzeitig unabhängig voneinander und deren Geschichten doch miteinander verknüpfbar sind.
Die erste Rückblende, die von beobachtender Perspektive in eine subjektive übergeht. Ein Hinweis darauf, daß Kumai gleichzeitig Geschichtenerzähler und Essayist über das Filmemachen ist. Eine Abfolge von Bildern, die beides offenbart, Magie des filmischen Erzählens und strenger Verweis auf das physikalische Phänomen Kinematograph, welches es erst ermöglicht.
II.
Die Geschichte des Witwers Isobe: Szenen im Röntgenlabor eines Krankenhauses, in der Aufnahmen seiner totkranken Frau zu sehen sind. Am Krankenbett, zärtliche Gespräche zwischen dem alternden Ehepaar, die seltsam hilflos und berührend zugleich sind. Dann der Blick auf einen Baum vor dem Fenster, dessen Blätter sich sanft im Wind wiegen. Seltsam abseits von der erzählten Geschichte, ein Bild auf die Dinge, die sind.
Ein kochender klappernder Teekessel auf dem Herd, der den Witwer aufweckt. Wenig später erzählt ihm seine Frau, daß sie gerade von dem Mißgeschick geträumt hat, welches er erlebt hatte. Diese Sequenz, die von einer übersinnlichen Begebenheit erzählt ist gleichzeitig, fast analytisch streng und deutlich erkennbar, in Einstellungen unterteilt. Am Krankenbett erzählt ihm seine Frau von ihrem Glauben an eine Wiedergeburt. Ein Schnitt und man sieht Isobe bereits mit Freunden und Verwandten bei der Totenfeier. Später, als alle gegangen sind, zeigt eine Einstellung des leeren Korridors die Einsamkeit des Witwers. All dies gibt schon einen Hinweis auf die Faszination des japanischen Kinos in seiner Spannung zwischen der Illusion einer erzählten eigenen Welt und der Desillusion durch die Transparenz der kinematographischen Bewegung als Abfolge von Einstellungen, die manchmal auch wie ein starres Standbild erscheinen
In einer zweiten Rückblende wird Mitsuko eingeführt, eine junge Frau in den Dreißigern. In der Synopsis des Films spielt sie eine zentrale Rolle; in Kumais Film wird ihre Dominanz immer wieder gebrochen. Mitsuko im pinkfarbenen T-Shirt zwischen anderen Studenten. Sie mokieren sich über den schüchternen christlichen Mitstudenten Otsu. Wenig später sitzen sie in einer ziemlich luxuriös aussehenden Bar. Da treiben sie miese Scherze mit Otsu, der kaum Alkohol verträgt. Im Hintergrund spielen zwei Musiker auf einer Flöte und einer Harfe. Unbeteiligt an der Handlung, sind sie dennoch nicht weniger präsent als die beteiligten Personen. Diese, eine der schönsten Szenen des Films, ist eine konkrete Referenz an eine Kinotradition, die mit liebevoll komponierten Bildern anstelle von Illusionen arbeitet.
Für kurze Zeit werden Otsu und Mitsuko ein Paar. Wenig später verläßt sie ihn und wird selbst zur einsamsten Figur des Films.
Lyon, wenige Jahre später: Mitsuko, inzwischen mit einem reichen Geschäftsmann verheiratet, (in roter Kostümjacke und anderer Frisur) ruft von einem Hotelzimmer aus Otsu an, der in Frankreich Theologie studiert. Ein Spaziergang auf einem Gemäuer, die wie die Arena eines antiken Amphitheaters aussehen, sie in einer blauen Jacke, er in einem schwarzen Priestergewand. Eine Travelling-Fahrt folgt den beiden unaufdringlich. Das Blau von Mitsukos Jacke und die gleichförmige Fahrt der Kamera strahlen eine seltsame Kälte und Entfremdung aus. Beim Abschied gehen beide in entgegengesetzte Richtungen.. Für einen Augenblick scheint ein Universum an Entfernung zwischen ihnen zu liegen. Leere, Einsamkeit, Abschied ins Ungewisse. In dem Lyon-Kapitel erscheinen Fetzen abendländischer Kirchenmusik wie kurze Ahnungen der Erlösung. Die Suche nach der Person, die man am meisten liebt, ist vielleicht auch die Suche nach Gott.
III. (geschrieben während der Bahnfahrt Montréal-Québec, 5.9.95)
Der Reisebus, der durch die Nacht fährt. Die Rahmenhandlung könnte endlich zum Hauptplot werden. Die Geschichte Mitsukos in Indien könnte endlich beginnen. Doch die Kamera im Bus verharrt auf dem Gesicht des alten Kiguchi. Ein alter Kriegsveteran erinnert sich an einen Freund, der vor kurzem gestorben ist. Dieser Freund (gespielt von Toshiro Mifune, mit dem unverwechselbaren, aber inzwischen hageren Gesicht) hatte ihm einst im Krieg das Leben gerettet. Von der Frau des Freundes erfährt Kiguchi, daß er sich mit dem Fleisch eines toten Freundes am Leben gehalten hat und seitdem von schweren Schuldgefühlen verfolgt wird. Eine Rückblende in einer Rückblende, schwarzweiß und stumm. Ein halb verhungerter Soldat nimmt sich mit einer Handgranate das Leben. Der plötzliche Schnitt auf eine Blume (farbig) und das Geräusch einer Explosion, die man nicht sieht. Anstelle eines grellen spekulativen Effektes, versetzt Kumai den Film zurück auf ein starres Bild. Manchmal, so scheint es, ist „Fukai Kawa“, eine Mahnung daran, daß Film aus Bildern besteht und die filmische Illusion nichts weiter ist, als ein Phänomen der Maschine und des menschlichen Auges.
Die erste Hälfte des Films ist vorbei, der Touristenbus erreicht die heilige Stadt Benares. Ein Meer von Lichtern, Menschen in den Straßen. Drei Personen auf der Suche nach spiritueller Wahrheit oder einfach auch nur nach sich selbst, ein Touristenpärchen auf der Suche nach Bildern mit einem Fotoapparat. Das Bildnis der Göttin Charmunda im Tempel. Zwei Inder, die in einem Bus musizieren. Die meisten Touristen bemerken die Musiker kaum. Im Bild aber ist ihre Präsenz, wie die der beiden Musiker am Anfang des Films wieder von der gleichen Wichtigkeit wie jene der handelnden Personen. In einer Szene unterhält sich Mitsuko mit dem Reiseleiter in der Hotelbar. Im Hintergrund hantiert der Barkeeper mit seinen Getränken. Trotz der bekannten und manchmal übersteuerten Dolby-Effekten des Tons entfalten gerade die auf den ersten Moment allzu verbindlich wirkenden Bilder durch ihre Komposition beim zweiten Hinsehen Vielschichtigkeit. Oft wird der scheinbar eingängige Erzählfluß durch verstörende Schnitte oder Ellipsen wieder verfremdet. Aufmerksamkeit ist Kumai wichtiger als Identifikation.
Die Wiederbegegnung von Mitsuko und Otsu: Otsu inzwischen in schäbiger Kleidung, erscheint in seiner körperlichen Haltung innerlich gefestigt.. Mitsuko (jetzt mit kurzer Frisur) hat sich vor einiger Zeit von ihrem Mann scheiden lassen. Die Geschichte könnte noch einmal von vorne anfangen und geht dabei schon fast zu Ende.
Dem Witwer erscheint in nächtlicher Flußlandschaft seine tote Frau. Eine Doppelbelichtung, transparent als Kunstgriff des kinematographischen Apparates, der bald wieder durch die bloße Präsenz der Dinge hinterfragt wird.
Mitsuko im Ganges badend im blauen Sari. Kiguchi betend im Tempel für die Rettung der Seele seines toten Freundes. Sequenzen, die sich zu einer Zeremonie verdichten, die gleichzeitig die der Religion und die des Kinos ist.
IV. (geschrieben während der Bahnfahrt Québec Montréal, 8.9.95)
Ein Tourist versucht eine hinduistische Totenzeremonie zu fotografieren. Während die empörten Hindus den Japaner verfolgen, versucht Otsu ihm den Fotoapparat zu entreißen, um ein Massaker zu verhindern. Der Sturz Otsus auf einer schwindelerregend steilen Steintreppe: Die Detailaufnahme eines Fußes, der auf den steilen Stufen den Halt verliert. Die Bewegung wird durch die Zeitlupe verlangsamt. Es folgt das Geräusch eines Sturzes, den man nicht sieht und der dennoch mehr unter die Haut geht als jeder spekulative Effekt.
Der Tag der Abreise: Die Japaner warten im Foyer, auf den Reisebus. In einer Einstellung sitzt links das japanische Touristenpärchen. Auf dem Tisch steht der Fotofilm, der Otsus Unfall (und späteren Tod) verursacht hat. Rechts daneben sitzt Mitsuko. Sie wartet auf Nachrichten aus dem Krankenhaus, ihre Mine ist fast ausdruckslos. Einstellungen, die kaum etwas von dem verraten, was in den Personen vorgeht. In meiner Imagination verdichten sie sich aber zu einer ähnlichen Intensität wie in der berühmten „Erdbeerkuchensequenz“ aus „The Magnificent Ambersons“.
Mitsuko und ein Hindu, der ein Gebet rezitiert, in einem Boot treibend auf dem Strom. Feierlich schüttet sie die Asche des toten Otsu in den Ganges. Wie der Zen-Schüler Honkakubo am Ende von „Sen no Rikyu“ steht auch Mitsuko mit leeren Händen da. Sie hat alles loslassen müssen und doch dabei so etwas wie Glauben gefunden. Am Ende ein geschmücktes Licht, daß in der Dämmerung auf dem Strom treibt, sich immer weiter von dem Boot entfernend. Die Geschichte ist zu Ende. Die von Menschen geschaffene Filmerzählung stirbt und wird den Elementen übergeben. Der Ganges menschenleer. Meine Interpretation dieses Sujets, daß von Liebe handelt, die erst im Tod ihre Erfüllung findet, würde pessimistisch ausfallen. Die kinematographische Spiritualität des Japaners Kei Kumai aber erzählt eine ganz andere Geschichte. Das Ende des Films ist so etwas wie ein zurück-geben der Menschen und Dinge, die man sich für die Filmerzählung geliehen hat. „“Fukai Kawa“ verbindet Traditionen des japanischen Realismus mit der Reflexion über den filmischen Realismus und ihre Grenzen, Referenzen an das klassische japanische Kino mit ihrer Verehrung jeder Einstellung als gleichberechtigtes Bild im Film, das Geschichtenerzählen und das Verweisen darauf, wodurch die filmische Erzählung entsteht. In „Fukai Kawa“, Kei Kumais schönstem Film seit „Sen no Rikyu“ (1989) kann man eine Menge über das Kino und das Filmemachen erfahren.
Rüdiger Tomczak
(Erstveröffentlichung, shomingeki Nr. 1 30.11.1995)
Ein Gespräch mit Kei Kumai
von Mi Jeong-Lee und Rüdiger Tomczak
*
(...) Im Alter von 14 oder 15 Jahren mußte ich auf einem Flughafen für die Kamikaze-Piloten arbeiten. Ich mußte da mit koreanischen Zwangsarbeitern zusammenarbeiten, die immer die schwerste Arbeit verrichten mußten und die schlechteste Nahrung bekamen. So mußten sie zum Beispiel schwere Fässer von einer Seite des Flughafens zur anderen schleppen. Das ist eine Distanz von ungefähr 1000 Metern. Ich mußte mehrere Monate mit ihnen zusammenarbeiten. Einige von ihnen waren mir sehr nahe. (wendet sich direkt an Mi Jeong- Lee) Ich habe heute, während unseres Gesprächs viel über Ihren kulturellen Hintergrund nachgedacht und fühle, daß ich heute zu vielen Koreanern geredet habe. (...)
*
Vor fünf Jahren habe ich Ihren Film „Shikibu Monogatari „ gesehen. Ich denke, daß dieser Film einige Verbindungen und Beziehungen zu „Fukai Kawa „ aufweist, wie in seiner Thematisierung von Okkultismus, Religion, sexueller Leidenschaft und spirituellen Aspekten.
Kumai: In dem Film „Shikibu Monogatari“ ist eine der Hauptpersonen die Sektenführerin Chishu. Sie hatte sehr viele Gläubiger und ist sehr weit herumgereist. Ich habe die Geschichte der Priesterin , die es in der fernen Vergangenheit wirklich gegeben hat, in diese zeitgenössische Geschichte gesetzt. Es hat früher einmal eine Priesterin mit dem Namen Shikibu gegeben. Dieses Frau reiste herum und half besonders kranken und armen Leuten. Später kehrte sie zum Berg Aso zurück, nahm aber später ihre religiösen Aktivitäten wieder auf. Chishu ist die Reinkarnation von Shikibu. In dem Film „Fukai Kawa“, sehen Sie das Bildnis der Göttin Charmunda. Diese Göttin symbolisiert das körperliche Leiden und die Armut der Menschen. Sie hat verschiedene Charaktereigenschaften. Eine dieser Eigenschaften ist, daß sie furchteinflößend ist. In diesem einen Aspekt hat sie Ähnlichkeit mit der Priesterin. Chishu fürchtet die Isolation und galt auch bei ihren Gläubigern als eitel. Da ihre Gläubigen niemals geheilt wurden, reiste sie immer weiter herum. Sie ist auch eine sehr traurige Figur. In meinem Film wird sie verwickelt in eine Beziehung mit dem psychisch behinderten Toyoichi. Toyoichi war vorher ein ganz normaler Junge, bis zu einem Unfall. Seitdem leidet er unter Psychosen. Chishu benutzt ihn eigentlich wie einen kleinen Hund, auch zu ihrer sexuellen Befriedigung. Solange er in diesem abnormalen Zustand bleibt, ist er für sie wie ein niedlicher kleiner Hund. Damit befriedigt sie auch ihre Eitelkeit. Man kann sagen, daß auch in normalen Beziehungen manch einer recht blöd aussieht. Normalerweise bezeichnet man diese Leute dann als sehr arm. In einem Roman von Dostojewskij gibt es einen sehr ähnlichen Charakter. Bei diesem Charakter kann man auch an Otsu aus meinem letzten Film denken. Mitsuko versucht in „Fukai Kawa“ Otsu zu verführen, um ihre eigene Eitelkeit zu vergessen. In dieser Hinsicht haben beide Filme einige Affinitäten. Mitsuko und Chishu haben in ihrer Eitelkeit einiges gemeinsam, aber in der Natur ihrer Eitelkeit unterscheiden sie sich.
Kann man sagen, daß Sie die Idee von „Shikibu Monogatari“ in „Fukai Kawa“ weiterentwickelt haben?
„Shikibu Monogatari“ handelt eigentlich nur von rein japanischen Aspekten. In „Fukai Kawa“ geht es im Gegensatz zu dem anderen Film auch um verschiedene Kulturen und Religionen. Abendländische
und europäische Aspekte stehen hier neben den östlichen. „Fukai Kawa“ könnte auch von einem koreanischen, indischen oder einem chinesischen Regisseur gemacht worden sein. Hier geht es um die
verschiedenen Mentalitäten von Ost und West.
Die letzte Szene von „Fukai Kawa“ hat mich ein bißchen an das Ende von „Sen no Rikyu“ (Der Tod des Teemeisters Rikyu, 1989) erinnert.
Eigentlich möchte ich gerne etwas anderes zu dem Film „Sen no Rikyu“ erzählen, was sehr wichtig ist. (wendet sich direkt an Mi Jeong-Lee) Japan hat möglicherweise viele kulturelle Aspekte in der
fernen Vergangenheit aus China oder Korea übernommen. Der Tee kam von außen, über Korea und über das Meer. Zuerst wurde der Tee ganz normal getrunken. Dann begann man das Teetrinken mehr und mehr
zu ritualisieren. In der Tat begann man im Zusammenhang mit dem Tee nach dem Stand des Geistes zu fragen. In Japan galt das Teeritual als eine einmalige Gelegenheit im Leben mit bestimmten Leuten
Tee zu trinken. Der Tee hat eine besondere Bedeutung in spiritueller Hinsicht. Teezeremonien wurden aber auch auf den Schlachtfeldern durchgeführt, gerade bevor die Leute am nächsten Tag starben.
Für diese Teezeremonie brauchen sie bestimmte Schalen, die in Japan, Korea oder China hergestellt wurden. Der Teemeister Rikyu versuchte unterschiedliche Teeschalen zu verwenden. Er mochte zuerst
die wunderschön farbigen aus China. Und dann (wendet sich an Mi Jeong Lee), hören Sie genau zu, war Rikyu davon überzeugt, daß die koreanischen Teetassen die besten waren. Er begann, diese Tassen
besonders zu hegen. Lassen Sie uns nun über die Gebäude reden, in denen Tee getrunken wurde: Zuerst wurde Tee in Räumen japanischen Stils getrunken. Rikyu recherchierte dann koreanische Bauweisen
und kreierte selbst so einen. Ich glaube, es hat da viele Instruktionen von koreanischen Künstlern gegeben. Wir wissen nicht viel über Rikyu, am wenigsten über seine Jugend. Das meiste ist von
der Zeit vor seinem Tod überliefert. Das ist nur eine Vermutung von mir, aber ich glaube, daß Rikyu früher nach Korea gegangen ist um zum Beispiel die Herstellung koreanischen Teegeschirrs zu
studieren. Als die ersten Europäer kamen, gingen auch viele Japaner nach Europa, um dort zu studieren. So kann ich mir gut vorstellen, daß Rikyu in seiner Jugend in Korea studiert hatte. Ich
glaube das ist auch der Grund, daß Rikyu seine letzte Teezeremonie mit koreanischem Geschirr, in einem koreanischen Teezimmer, von koreanischen Zimmerleuten gebaut, abgehalten hatte. 27 Jahre
nach dem Tod Rikyus treffen sich in meinem Film die ehemaligen Schüler. Sie fragen nach den Ursachen für den Tod des Teemeisters durch Selbstmord. Zu Lebzeiten hatte er politische Querelen mit
seinem Herrscher Fürst Hideyoshi. Rikyu war in der Position, in der er mit dem Fürsten über Politik reden konnte. Hideyoshi plante eine Invasion in ein fremdes Land. Er besetzte Korea und China,
genau wie die Japaner später im Zweiten Weltkrieg. Rikyu war absolut dagegen. Korea war seine geistige Heimat. In diesem Filmfestival habe ich vor vielen Jahren meinen Film „Ogin Sama“ gezeigt.
Das ist auch eine Geschichte über Rikyu. Hier spielte allerdings Toshiro Mifune den Fürsten Hideyoshi und Takashi Shimura den Rikyu. Mifune befiehlt hier also Shimura, Seppuku zu begehen. Takashi
Shimura ist inzwischen gestorben. In „Sen no Rikyu“ spielt dann Mifune die Person, die ermordet wird. Wir wissen nicht, wie das letzte Gespräch zwischen Rikyu und Hideoyoshi gelaufen
ist.
In der Lyon-Szene von „Fukai Kawa“ gibt es eine Szene, in der Mitsuko mit Otsu einen langen Spaziergang macht. Sie trägt eine blaue Jacke. Später, wenn sie im Ganges badet, trägt sie einen
Sari in demselben Blau. Gibt es da eine Verbindung zwischen den beiden Szenen?
Das ist eine sehr präzise Frage. Das war von Anfang bis Ende beabsichtigt. Um noch einmal auf „Sen no Rikyu“ zurückzukommen, da habe ich versucht besonders die Farben Rot und Gelb zu vermeiden.
Die Farbdramaturgie erscheint hier oft monochrom. In meinem aktuellen Film bin ich von einem anderen Farbstandpunkt ausgegangen. Diese Umwelt hatte manchmal sehr schöne Farben. Die junge Frau in
„Fukai Kawa“, sollte immer von den anderen zu unterscheiden sein. Warum dieselbe Farbe in Lyon und Benares? Sie sollte den Charakter Mitsukos enthüllen. Am Anfang in der Bar ist sie in rosa
gekleidet, um ihren Charakter offensichtlicher zu machen. In Lyon mußte sie eine andere Farbe tragen, um auch die 10 Jahre spürbar zu machen, die seit der Barszene vergangen sind. Die Farbe Blau
hat aber auch einen psychologischen Aspekt. Blau kann oft auch Kühle repräsentieren, während Rot mehr mit Leidenschaft zu tun hat. Wenn Mitsuko in Lyon telefoniert, trägt sie eine Farbe, die
stärker ist, als die in der Barszene.
Da gibt es eine sehr interessante Szene, wenn der Fotograf und seine Frau, den Fotofilm vor sich auf den Tisch legen, der Otsu eigentlich umgebracht hat. Rechts daneben sitzt Mitsuko, die auf
einen Anruf aus dem Krankenhaus wartet. Kann man da so etwas wie eine Kritik am Filmemachen um jeden Preis sehen.
Ich denke der Mann mit dem Fotograf ist kein schlechter Mensch. Er hat die Fotografie als seinen Job angesehen. Er nimmt diesen Film als etwas, was sein Leben stabiler macht. Wenn man über
Verhalten spricht, dann passiert es uns auch, daß man unbewußt etwas tut, was falsch ist. Der Fotograf ist sich keiner Schuld bewußt in dem was er gemacht hat. Es ist eine Tragödie.
Ich habe eher daran gedacht, daß man heute im Film alles zeigen kann, ohne irgendwelche Rücksicht. Der Fotograf allerdings, auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist, fotografiert etwas, was
er nicht darf.
In einem amerikanischen Film hätte man den Fotograf sicher umgebracht. In meinem Film gibt es einige sehr wichtige Schnitte. Wenn der Fotograf seinen Film auf den Tisch legt, gibt es eine
Großaufnahme von Mitsuko, die auf den Film starrt. Es scheint, daß sie weiß, was passiert ist und so etwas wie Wut und Trauer fühlt. Aber da ist auch schon Resignation in ihrem Gesicht. Das ist
nicht leicht zu beschreiben. Andererseits hofft sie noch, daß Otsu gerettet werden kann und daß sie mit ihm nach Japan zurückkehren kann.
(zufällig aufgezeichnet während einer kleinen Verschnaufpause)
Ich habe heute eine ziemlich blöde Kritik in „The Gazette“ gelesen, wo es hieß, ihr Film sei zu statisch.
Das ist sehr leicht gesagt. Man kann das Universum anhand eines einzigen Blattes beschreiben. Nehmen Sie zum Beispiele Filme, wie „Banshun“ oder „Tokyo Monogatari“ von Ozu. Im übrigen gibt es in
„Fukai Kawa“ eigentlich viele, wenn auch für den Zuschauer kaum wahrnehmbare Kamerabewegungen.
Vielleicht hat dieser Kritiker auch die besondere Art des japanischen Realismus, der oft auch reflexiv ist, mißverstanden.
Ich glaube, es ist besser, diesen Film mehrere Male zu sehen. Einige Kritiker haben mir gesagt, je öfter sie meinen Film gesehen haben, umso mehr haben sich ihre Eindrücke verändert.
Dieses Gespräch wurde am 3. September im Hotel „Le Meridien“ während des Weltfilmfestivals in Montréal geführt. Besonderer Dank gilt dem Übersetzer Dr. Minoru Tsunoda, der die schwierigste
Aufgabe von uns allen hatte.