photo: Patrick Girard)
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Claudes Hände

 

Erinnerungen an  Claude Forget 30. September 1949 - 17- August 2008

 

please find the english version in my blog)

 

 

 

 

Ich kann heute nicht hier sein Ich konnte nicht an der Trauerfeier teilnehmen. Und ich war auch nicht bei ihm an seinem letzten Tag am 17. August.Claude war mir immer sehr nah gewesen, auch wenn die geographische Distanz zwischen uns sehr gross war.Als bekannter Verleiher, Produzent, Koordinator und Kenner des Unabhängigen Kinos, verdanke ich ihm fast meine gesamten Kenntnisse und Erfahrungen mit Filmen aus Quebec. Durch ihn habe ich das Werk vieler junger und talentierter Filmemacher kennengelernt, die es verdienten über die lokalen Grenzen hinaus entdeckt zu werden. Claude war einer der wenigen Verleiher, mit denen ich über Filme reden konnte und für die Film weit mehr als ein Geschäft war. Obwohl er vor allem dafür gekämpft hatte, dass unabhängige Filme produziert und schließlich aufgeführt werden konnten, galt seine Leidenschaft vor allem dem Film als kreatives Medium.

 

 

Ich traf Claude zum ersten Mal 1995 während des "Festival des Films du Monde" in Montreal.  Vorgestellt hat uns ein anderer Freund, Claude R. Blouin. Ein Jahr zuvor hatte ich über den ersten Spielfilm von François Delisle, Ruth geschrieben, den sein damaliger Verleih "Cinema Libre" in kanadische Kinos gebracht hatte.Indirekt habe ich Claude durch diese Filmkritik kennengelernt.  Durch Claude habe ich nicht nur einen Einblick in das Cinéma Québecois bekommen, sondern auch in die Geschichte und das Alltagsleben in der Provinz Quebec. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Claude und mir war, dass wir beide aus sehr kinderreichen Arbeiterfamilien kommen.

 

 

Da ich Claude im Laufe der Zeit näher kennen lernte, ist es für mich kaum möglich den leidenschaftlichen Aktivisten und den Menschen zu trennen. In der Zeit, in der ich ihn kennen lernte, war ich ziemlich dogmatisch und ultimativ in meinen Ansichten wie Filme sein sollten. Für Claude, musste ein Film zuerst einmal lebendig sein, dann konnte er seinetwegen ein guter oder vielleicht sogar ein grossartiger Film werden. Ein Film kann scheitern, aber der Versuch eines jungen Filmemachers etwas mitzuteilen war für ihn immer wert gesehen und gehört zu werden.

 

 

Ein Jahr später, im Oktober 1996 verbrachte ich während einer Quebec-Reise eine Woche in seinem damaligen Apartment im Montrealer Viertel Saint-Henri und durfte in dem Büro des Verleih-Kollektivs ein und ausgehen. Da entdeckte ich, dass Claude nicht nur ganz unterschiedliche  Arten von Filmen akzeptieren konnte. Er nahm auch die Menschen die er liebte, so wie sie sind und nicht wie sie seiner Meinung nach sein sollten.

 

Ich erinnere mich an das Jahr 2002, das einzige Mal, dass Claude mich während der Berlinale besuchte. Eines Abends hatten wir eine Party. Neben Claude, war eine seiner Kolleginnen, ein junges franko-kanadisches Paar (das Claude spontan in Berlin kennen lernte),  und Freunde von mir: ein japanisches Paar (beide Filmkritiker) und Shaheen Dill-Riaz, ein Filmemacher aus Bangladesch. Claude hat mir später immer wieder erzählt, wie gern er sich an diesen Abend erinnerte. Wenn sich Leute treffen und zusammen eine gute Zeit verbringen - das schien mir für Claude das schönste überhaupt gewesen zu sein.

An einem anderen Abend sahen wir uns den ersten Dokumentarfilm meines Freundes Shaheen Dill-Riaz, Sand und Wasser an, während Shaheen und ich ihm abwechselnd die englische Dialogliste vorlasen.

 

 

2003 habe ich ich Claude zum letzten Mal persönlich getroffen. Es war während meiner bislang letzten Reise nach Quebec. Ich hatte ihn in seiner Hütte in Sainte-Julienne besucht und war mehrmals in seinem Büro. Durch interne Zwistigkeiten hatte Claude inzwischen seinen Posten als Geschäftsführer des Verleihkollektivs "Cinéma Libre" verloren.

 

Anfang 2005, nachdem Cinéma Libre aufgrund finanzieller Schwierigkeiten, die sein Nachfolger zu verantworten hatte, aufgelöst wurde, bekam Claude eine neue Chance im weit entfernten Rimouski als Koordinator für das Medienzentrum Paraloeil. Von nun an tauschten wir uns durch  Anrufe und E-Mails aus. Die Liste der Filme und Filmemacher, die ich durch meinen Kontakt zu Claude kennen lernte wäre sehr lang, Pascale Ferland, Lucy Lambert, die Exilchilenin Marilû Mallet, Richard Brouillette, Catherine Martin oder Benoit Pilon, um nur einige zu nennen.Neben der Leidenschaft für seine Arbeit hatte Claude einen klaren Sinn für das Wesentliche im Leben. Seine bedingungslose Liebe zu den Menschen, die ihm nahe standen, seine Tochter, seine Enkelkinder, Geschwister und Freunde waren die eigentliche Belohnung für ihn und das weit mehr als das äusserst launische und oft undankbare Tagesgeschäft des Films.

 

 

Im Jahr 2006 erfuhr ich, dass Claude an Krebs erkrankt ist. Er schien sehr optimistisch zu sein, was seine Chancen auf Heilung betrafen. Oder habe ich diesen Optimismus nur in seine Aussagen hineininterpretiert, um vor der Konfrontation mit der Wahrheit zu flüchten?

 

Am Ende seines viel zu kurzen Lebens, als alle Hoffnung auf Heilung verloren war, traf Claude eine klare Entscheidung. Die letzten Wochen seines Lebens wollte er in seinem Heimatort Sainte-Julienne, umgeben von den Menschen, die ihm am nächsten standen verbringen: seine Schwestern und seine einzige Tochter Marie-Soleil.

 

 

Da gibt es ein Erlebnis, von dem ich ihm gerne erzählt hätte. Im Jahr 2006, während meiner ersten Reise nach Indien, wurde ich in Kolkata durch einige meiner Freunde zu einem Haus geführt und einem alten Mann vorgestellt, der sich gerade von einem mittleren Schlaganfall erholt hatte. Später erfuhr ich, dass es sich bei dem Mann um das bekannteste indische Fussballidol handelt.  Er war ein freundlicher Mann um die siebzig. Im ersten Moment wusste ich weder, wer dieser Mann war, noch warum mich meine Freunde ihm vorstellen wollten. Der alte Mann lag auf einem Doppelbett, unfähig die rechte Hand zu bewegen. Ich war zu schüchtern, um etwas sagen zu können und hielt für etwa 10 Minuten seine linke Hand. Er erzählte mir etwas mit seiner sehr sanften Stimme. Schliesslich bat uns die Krankenschwester zu gehen. Ich war der erste, 

der das Haus verliess und ehe ich mir die erste Zigarette angezündet hatte, wurde mir bewusst, wie sehr mich diese Begegnung berührt hatte. Für diesen einen Moment war mir eine Person so nahe,  von der ich vor wenigen Minuten nicht einmal den Namen kannte.

 

Ich erinnerte mich an diese Begegnung, als ich am 17. August versucht hatte, Claude im Haus seiner Schwester anzurufen. Seine Schwester teilte mir mit, dass Claude nicht mehr sprechen könne und bereits im Sterben liegt. An diesem Tag war Claude mehr als 6000 Kilometer von mir entfernt. Aber in meiner Einbildung kommt es mir so vor, als hätte ich seine Hände ein letztes Mal gehalten.

 

 

Rüdiger Tomczak

 

 

Der Text  wurde geschrieben für die Hommage an Claude Forget in der Cinemathéque 

Québecois, Montréal am 13. September 2008.

Für diese Ausgabe wurde der Text von mir aus dem Englischen übersetzt und leicht 

verändert. 

 

 

 

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